Donnerstag, 1. September 2011

Minderheiten im Kampf um das Dasein





Sylvanien, Teil des Wolfsstaates, war immer noch ein Land des Urzustandes, ein weites Land mit hohen Bergen und dunklen Wäldern. Die grauen Waldesel galten als Minderheit in der Enklave, während die ebenso grauen Wölfe in der gesamten Tiergesellschaft das Sagen hatten. Widerstand gegen ihre Übermacht  war zwecklos. Wenn ein Esel sich wesensgemäß verhielt, also störrisch und stur, wenn er aus innerer Überzeugung einen Befehl verweigerte, gar initiativ wurde und nach seinen eigenen Vorstellungen handelte, dann wurde er schnell in die Schranken verwiesen und in Ketten gelegt. Am Pranger und unterm Joch durfte er dann fühlen, was es bedeutet, einen freien Willen und die freie Selbstbestimmung in einem Staat durchsetzen zu wollen, der das Monopol des Denkens und Handelns für sich beanspruchte.


Wenn ein rebellisches Schwein aufmuckte und als wenig denkbegabtes Wesen über unsinnige Dinge räsonierte, über Trivialitäten wie Gleichheit und Gerechtigkeit oder über das kleine Glück des Alltags, das mit einem vollen Magen und mit einen geruhsamen Schlaf im warmen Stall zusammenhing; wenn ein friedfertiges Schaf monoton blökend zur Fraternisierung unter den Bestien aufrief, dann waren dies umstürzlerische Umtriebe, Wühlarbeit gegen die Sozialordnung, reinste Ketzerei, alles Formen des politischen Widerstands, die im despotisch gelenkten Staat der Wölfe nicht hingenommen werden durften.
Der Staat der Starken griff durch und handelte auf seine Weise. Querulanten und Andersdenkende, Auerochsen und Esel, Pferde und Eber, wurden wie unzählige andere Tiere zur Freude der fanatisierten Wölfe entweder gleich zerfleischt. Oder sie endeten in einem jener renommierten Schlachthäuser, wo sie - zu Salami verarbeitet - in alle Welt verkauft wurden.
Wenn ein Mächtiger des Wolfsstaates von Minderheiten redete, dann meinte er nicht nur die geringe Zahl einer Tierart, sondern er unterstellte gleich auch ihre Minder-Wertigkeit. Die Sprache lenkte das Denken der Reflektierten und der Unreflektierten unter den Staatsbürgern – und sie manipulierte unauffällig auch ihren Gedankengang.
Esel, die von den historisch denkenden Ideologen des Wolfsstaates als klassische Erbfeinde eingestuft worden waren, hatten es besonders schwer. Die Untaten der neuesten Geschichte, die im Namen aller Esel begangen worden waren, lasteten gerade auf ihnen. Sie wurden in Sippenhaft genommen. Und ihnen waren die Rutenbündel zugedacht, die den Liktoren voran getragen wurden wie die scharfe Schere den Lektoren.
Bereits kleinere Verstöße gegen die Wolfsordnung konnten zum Schafott führen, denn das Fell der Langohren war noch begehrter als ihr Fleisch. Wenn ein Esel zur Strecke gebracht und ihm die Haut über die Ohren gezogen worden war, würfelten die Wölfe darauf um ihren Anteil, bevor sie die Kostbarkeit unter sich aufteilten. War es ein dickes Fell, das in die Waagschale geworfen wurde, dann wurde später ein Mantel daraus und Pfotenschuhe für den kalten Winter. Manchmal gerbten sie es gut und machten ein Trommelfell daraus für die große Pauke - oder sie zogen es auf die weit hallenden Buschtrommeln, mit denen sie in Windeseile Nachrichten wie Terror im Land verbreiteten.
War die Eselshaut aber zart und weich, dann machten sie kostbarstes Pergament daraus, auf welchem, beginnend mit der Epoche der Wölfin, die wichtigsten Annalen des Wolfsstaates für alle Ewigkeiten festgehalten wurden. Auch völkerrechtliche Verträge  wurden auf Pergament fixiert, bedeutende Ereignisse, große Kriege, Schlachten und Schlachtungen.

Reißen, Schlachten und Vernichten stand hoch im Kurs im Wolfsstaat. Jenes in den Schlachthäusern ebenso wie das auf den Schlachtfeldern. Und nicht zufällig war es ein verkappter Wolf gewesen und kein zahmer Esel, der den Klassiker strategischer Vernichtungskunst zu Papier gebracht hatte – das viel gelesene Werk Vom Kriege, Pflichtlektüre für alle Offiziere des Wolfsstaates.
Das Abschlachten wurde zunächst im Kleinen eingeübt, beim fast täglichen Schweineschlachten oder beim Köpfen der Hähne und Fasane, um dann im großen Stil angewandt zu werden, industriell – mit dem Fallbeil.
Wer sich erst mit dem ahnenden Zappeln, mit der Todesangst und mit den Todesschreien der einen abgefunden hatte, den schreckten die Verzweiflungsschreie der anderen nicht mehr. Opfer musste es geben, sinngeladenes Sterben, damit andere leben konnten.
Hart werden musste man im Wolfsstatt, auch seelisch hart. Nur gestählte Batallione konnten in die Winternacht marschieren und der klirrenden Kälte trotzen. Härte, das war die Tugend der Eroberer, die weit über die Tapferkeit hinausging. Und Konquistadoren bevorzugten Erobererkost, blutig oder unterm Sattel weichgeritten wie einst bei König Etzel und Dschingis Khan.
Der Wille zur Macht wollte es so, weil das Überleben der Arten es so diktierte:
„Entweder wir setzen uns durch“, verkündete der Fürst aller Wölfe
„oder wir müssen Mächtigeren dienen.“
„Vlad“, nannte man ihn gelegentlich in der Ursprache - andere, die seinen Pfahl schon genauer kannten, sprachen nur noch vom Teufel, der dort „Dracu“ heißt.

„Unterwerfe und unterjoche“, damit du nicht selbst zum Untertan wirst, lautete ein Kernsatz des Lupismus, der staatstragenden Weltanschauung, die alle Schwächen des noch unzulänglichen Animalismus längst überwunden hatte.
Während der universelle Animalismus noch an egalitären Fiktionen festhielt und die gesetzliche Gleichstellung aller Tiere einforderte, bekannte sich der Lupismus uneingeschränkt zum Recht des Stärkeren sowie zum Willen zur Macht in der gesamten Natur, dessen staatspolitischer Ausdruck der wohl gelenkte Führerstaat war mit einer triumphierenden Bestie Wolf an der Spitze und einer entfernten Glückseligkeit in der noch zu errichtenden Gesellschaft des Lichts als Staatsziel.
Eine Tötungshemmung kannten Wölfe nicht. Und immer wenn Blut floss, waren die Wölfe berauscht und selig. Was war schon dabei?
Krieg war schließlich ein traditionelles Mittel der Politik. Und töten, Leben nehmen, war nach den ehernen Gesetzen der Natur, die keine Moral kennt, nicht weniger verwerflich als Leben spenden!
Mitleid ziemte sich nicht im Wolfsstaat; noch weniger Mitleiden mit der niederen Kreatur, die daniederlag, weil eine höhere Ordnung es so wollte.
Hatte nicht Gott das Schaf zum Schaf gemacht und den Wolf über das Lamm gestellt?


Alte Bücher kündeten davon, selbst heilige Bücher! Und was alt und heilig war, war irgendwann auch einmal gut und gerecht.
Die Leitwölfe im Wolfsstaat waren auch seelisch gefestigt - wie Indianer, zeigten sie weder Regungen, noch Schmerz.

In jene grausame Welt, die dort unten, an der Pforte zur Eselburg noch heil schien, war der kleine Waldesel ungefragt hineinkatapultiert worden. Nur ahnte Faustinus Optimus noch nichts von all diesen schlimmen Dingen, von maßloser Willkür, vom Recht des Stärkeren, von Anpassung und Selektion, vom Überlebenskampf aller gegen alle, weil sein animalisches Bewusstsein noch tief schlummerte und die Umwelt so hingenommen wurde, wie sie war.
Ein höherer Wille hatte gerade ihn in den Machtbereich der Wölfe hinein versetzt, in eine Welt wilder Bestien, die unerbittlich war und roh. Der Wolfsherrschaft ausgeliefert, musste er sich fortan selbst zurechtfinden, um wohl oder übel zu überleben.
Das war sein Schicksal - und das war seine Geworfenheit, sein In-der-Welt-Sein, ein Zustand, für den er nichts konnte.
Hatte er es schlechter getroffen als andere Tiere,  etwa als die Sau aus der Nachbarschaft mit ihrem Wurf? Zwölf Ferkel quiekten und grunzten vergnügt im Stall, ohne Ahnung davon, wie gut hungrigen Wölfen Schweinefleisch schmeckt.
Auch die geschwätzige Ganz am nahen Teich wähnte kaum, dass sie Weihnachten nicht überleben würde.
Die „Geworfenheit“ aller Kreatur – ein sonderbares Phänomen!
Das eine Tier kam in der Wüste zur Welt, unter giftigen Schlagen und Skorpionen, das andere am Nordpol zwischen Eis und Schnee, unter den scharfen Krallen von Eisbären oder Geiern. Trotzdem mussten sich alle behaupten.


Copyright: Carl Gibson

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