Donnerstag, 1. September 2011

Ein Stern

 

Nicht weit von hier am Rande eines dunklen Waldes lebte vor nicht allzu langer Zeit eine Eselsfamilie in stiller Einsamkeit. Nichts fehlte ihnen zu ihrem Glück als ein Kind, an dem sie sich erfreuen und in dem sie nach ihrem Dahinscheiden weiter leben wollten. Sie harrten lange und schickten ihre Gebete hoch zum Himmel, bis sich ihr frommer Wunsch endlich erfüllte. In heller Mondnacht wurde ein Kindlein in die Welt geholt, ein besonderes Kind, das bei der Geburt nicht erbärmlich schrie wie andere Eselskinder, sondern gleich laut auflachte. Die Heiterkeit der Seele spiegelte sich im  Antlitz des Neugeborenen und seine blauen Augen strahlten wie der hell funkelnde Stern oben am Firmament, der im Augenblick der Geburt erstmals zu beobachten war.
Keiner sah den Vorgang am Nachthimmel außer Felix, der Nekromant, der als einziger unter den Eseln weit und breit den Lauf der Gestirne zu deuten wusste.
„Ein neuer Stern am Himmel? Ein gutes Omen!“,
wunderte er sich.
„Genies werden manchmal mit Sternen geboren, Hoffnungsträger der Eselheit in schwerer Zeit!“
Kabbala und Weiße Magie sagten ihm, dass es so sein konnte.
Gleich, nachdem er von der Geburt in der Nachbarschaft erfahren hatte, eilte er zum Stall, um das mögliche Wunder zu schauen. Er kam und sah dann auch den kleinen Esel im Stroh und staunte.
Tatsächlich: Zwei leuchtende Augen blickten ihn an und eine Zuversicht dahinter, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Wenn das kein Zeichen war? Ein Wink Gottes?
„Ecce asinus!“,
entfuhr es dem Sterndeuter entzückt,
„Seht nur welch ein Pracht-Esel!“
Mit noch mehr Staunen vernahm er dann das helle Lachen!
Seit Demokrit hatte wohl noch niemand so herzlich gelacht!
Ja, es gab noch Zeichen und Wunder ... damals in Concordia.
„Wenn ich diesen Pfundskerl taufen darf, dann werde ich es liebend gerne tun“
ereiferte sich Felix.
„Den richtigen Namen werde ich ihm aussuchen, einen, der zu ihm passt, der ihn trägt durch die Zeit und der vielleicht seinen Ruhm begründen wird in Geist und Kunst. Und ich werde ihm ein guter Pate sein, auch in bösen Zeiten!“

Nichts sprach gegen den berufenen Mentor aus Leidenschaft. Also wurde der kleine Sylvanier bald darauf im Felsendom getauft.
Faustinus sollte er heißen, genauer Faustinus Optimus, so wollte es der gescheite Pate, ganz im Einklang mit der alten Überzeugung, nomen est omen. Ein klingender Name war keinesfalls eine Last wie die kaum auszufüllenden Fußstapfen übermächtiger Väter und Vorväter, vielmehr ein geschmeidiger Balsam, der Felder ebnete, die Bahn bereitend, die künftig zu beschreiten war. Im "großen Namen", der Programm war und Mission, lagen Herkunft und Zukunft verborgen und konnten kundig gehoben werden wie die Wahrheit und Wesenheit aus allen Dingen.
Felix hatte diesen besonderen Namen mit Bedacht gewählt, wie einst die Römer, auch weil er anderen Respekt einflößte, wie alles Erhabene und Unbekannte und weil er den Zögling zugleich in die Pflicht nahm:
„Der Anspruch eilt der künftigen Persönlichkeit voraus wie der Ruhm dem Genie“,
postulierte Felix knapp, ohne Lust, tiefere Geheimnisse der Lichtmetaphysik preisgeben zu wollen.
Sein Schützling würde es leichter haben im Leben, wenn die Welt in freudig aufnahm, statt als Last. Das Eselsein war schon genug – und wie viele Esel kamen mit einer Bürde auf die Welt, ohne Kraft und Gelegenheit, je aus der Eselshaut heraus zu kommen.
Faustus aber hätte er in keinem Fall heißen dürfen – denn Faust, das war doch Hybris, luziferische Verstiegenheit, die Bürde überhaupt, schwer wie die Erbsünde und niederziehend wie ein Mittagsdämon und Melancholie. „Faustinus“ aber war genau das Gegenteil davon, wohlklingend, von der Leichtigkeit des Seins erfüllt und passend zu einem kleinen Gott, der nach höheren Sphären strebt. Kein Kainsmal beschwerte diesen schönen Namen und keine Erbsünde der Vergangenheit. Rein war er wie die Seele des Kleinen.

Mit wohlschmeckender Eselsmilch verwöhnt, beschützt und geborgen, lebte Faustinus dann lange in elterlichen Stall. Er genoss die behagliche Wärme, den Duft von immer frischem Heu und die klingenden Wohllaute seiner Umgebung.
Mit Spielen vertrieb er sich die Zeit; und spielend erlernte er manches Nützliche, zunächst lesen, dann schreiben und schließlich folgerichtig denken. Sein Milieu prägte ihn und bestimmte sein Sein. Da dieses Milieu aber gut war, strahlte es auf Faustinus aus und machte aus ihm den milden Optimus.
In einer stillen Stunde rief der Alte seinen Schützling, den er bis dahin in so vielen Dingen der Wissenschaft und Kunst unterwiesen hatte, zu sich und erzählte ihm die Begebenheit mit der Himmelserscheinung vor sieben Jahren an einem siebten Tag in der siebten Stunde:
„Der helle Stern dort oben, der fast den Morgenstern überstrahlt, Faustinus, das ist dein Stern. Behalte ihn im Auge, wenn immer du kannst und folge seiner Bahn. Eine Gottheit hat ihn nur für dich am Himmel aufgerichtet, als Richtschnur und Kompass auf deinem Weg in die Welt. Folge dem Stern auf allen deinen Wegen und achte darauf, ob er ansteigt am Firmament oder ob er sich neigt und niedersinkt – er wird dich lenken auf deinen Wegen … und er wird dich deiner Bestimmung zuführen, zum letzten Ziel hin … und ins Erdenglück, vielleicht!“

Die ewigen Ideen, Gott im Herzen und die Schicksalsmacht der Sterne über ihm, das waren die Dinge, die Felix ihm mitgeben wollte auf dem Weg ins Leben. Wer den Blick immer wieder zum Himmel erhob, der erkannte seine Endlichkeit, wurde fromm und bescheiden.
„Ad astra?“
Hinauf zu den Sternen … aufsteigen … fliegen… streben – wie Spielzeugdrachen und Raketen? Sehr wohl!
„Nur dürfen wir nicht alles, was wir können“,
mahnte Felix, der Erde und Ozeane bereist hatte und mit dem Luftschiff selbst zum Himmel aufgestiegen war. Dabei sorgte er sich um ganz irdische Dinge, vor der Haustür, wo Maß und Hybris seit einiger Zeit durcheinandergeraten waren.
Weshalb sein sonst so freier Erzieher gerade in gesellschaftlichen und politischen Fragen der ethischen Selbstbeschränkung das Wort redete, verstand Faustinus noch nicht ganz. Die Schöpfung war ihm bisher vollendet erschienen – weshalb sollte er am göttlichen Plan zweifeln? Alles war doch gut eingerechtet in Concordia – und die böse Wolfswelt, die gab es doch nur im Märchen! Lupus in fabula – eben!




Copyright: Carl Gibson

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen